04 Nov. Was ist die Polyvagal-Theorie?
In der modernen Medizin und Therapie wird die Verbindung von Körper, Geist und Seele zunehmend als zentral für Gesundheit und Wohlbefinden erkannt.
Die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges bietet ein tiefgreifendes Modell, das erklärt, wie unser autonomes Nervensystem auf Sicherheit und Bedrohung reagiert und wie wir diese Erkenntnisse für Heilung und Resilienz nutzen können.
Die Polyvagal-Theorie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf unterschiedliche Stressbelastungen reagiert. Dabei unterscheidet sie zunächst drei Zustände:
- „Social Engagement State“ – vermittelt durch den ventralen Vagus.
- „Fight-or-Flight State“ (Kampf oder Flucht) – vermittelt durch den Sympathikus.
- „Shutdown State“ (Abschaltzustand) – vermittelt durch den dorsalen Vagus.
„Die Polyvagal-Theorie ist die Wissenschaft der Begegnung, die Wissenschaft davon, sich sicher genug zu fühlen, um sich in das Leben zu verlieben und die damit verbundenen Risiken einzugehen“.
Neurozeption: Wahrnehmung von Sicherheit und Bedrohung, Deb Dana
„Neurozeption ist die unbewusste, körperliche Wahrnehmung von Sicherheit oder Bedrohung. Sie bestimmt, ob wir uns öffnen und verbinden oder in einen Verteidigungszustand gehen.
- Sicherheit*“ führt zu „Verbindung“ (Herzöffnung).
- Gefahr“ führt zu „Abgrenzung“ (Kampf/Flucht).
- Lebensbedrohung“ führt zu „Erstarrung“ (Abschottung).
Hybride Zustände und das autonome Spektrum
Unsere autonomen Reaktionen sind vielfältig und variabel. Oft erleben wir hybride Zustände, in denen sich verschiedene Aktivierungsmuster überlagern. Ein Beispiel dafür ist das „Spiel“, das Elemente der Bindung und der sympathischen Aktivierung enthält.
Einige hybride Zustände sind:
- Genießen: Verbundenheit mit leichter Sympathikus-Aktivierung (z.B. spielerisches Flirten).
- Wettkampf: Volle sympathische Aktivierung bei gleichzeitiger sozialer Verbundenheit (z.B. Spitzenleistung).
- Verhandlung: Sympathische Aktivierung bei gleichzeitiger sozialer Verbundenheit (z.B. Gehaltsverhandlung).
- Freeze: Ein Zustand zwischen Sympathikus und dorsalem Vagus (z.B. Angststarre).
- Dorsalstarre: Tiefes Erstarren bei Lebensgefahr (z.B. „Totstellreflex“).
Bedeutung für die Gesundheit
Die Polyvagal-Theorie bietet ein tiefes Verständnis für:
- Die Körper-Geist-Verbindung und ihre Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten.
- Systeminteraktionen im Körper: Das autonome Nervensystem interagiert mit anderen Systemen im Körper, wie z.B. dem Immunsystem oder dem Hormonsystem. Ist das Nervensystem im Gleichgewicht, befinden sich auch die anderen Systeme in einem gesundheitsfördernden Gleichgewichtszustand (Homöostase).
- Wie Trauma entsteht und welche Folgen es hat.
- Die Notwendigkeit, ein Gefühl der Sicherheit zu kultivieren, um Resilienz und soziale Verbundenheit zu fördern.
Unser Ziel sollte nicht sein, bestimmte Zustände zu vermeiden, sondern eine stabile Basis von Sicherheit zu schaffen und alle autonomen Zustände flexibel zu nutzen. Dies ermöglicht uns, unsere Stressmuster zu erkennen und bewusst darauf zu reagieren.
„Menschliches Wohlbefinden entsteht, wenn wir uns öfter sicher fühlen, als wir uns in Gefahr fühlen.“ Natureza Gabriel
Praktische Schritte zur Regulation
- Selbstwahrnehmung entwickeln: Eigene Stressreaktionen und hybride Zustände erkennen.
- Sicherheit kultivieren: Durch soziale Interaktion, körperorientierte Übungen, Achtsamkeitstraining oder gezieltes Training (z.B. auditive Stimulation des Vagus-Systems).
- Verbindung fördern: Mit sich selbst, mit anderen und mit der Umwelt.
Empfohlene Literatur
- Stephen Porges: „Die Polyvagal-Theorie“
- Deb Dana: „Anchored: How to Befriend Your Nervous System Using Polyvagal Theory“
- Stanley Rosenberg: „Der Selbstheilungsnerv“